Ein Ort wie aus dem Bilderbuch: Berge, Wälder und eine malerische Aussicht ins Prättigau. Aber nicht für jeden wirkt Valzeina so idyllisch.
Der Bus nach Valzeina fährt nur morgens, mittags und abends. Verpasst man den letzten Bus um 18.22 Uhr, geht es zu Fuss drei Stunden steil den Berg hinauf. Doch Valzeina ist noch nicht die Endstation. Zum Ausreisezentrum (ARZ) Flüeli führt eine kurvige Strasse den Hügel hoch – 30 Minuten sagt Google Maps. Wie im Paradies wirkt es hier. Zwischen Kuhglocken, grünen Wiesen und Bergspitzen erscheint das weisse Haus mit roten Fensterläden, das aktuell 24 Flüchtlinge beherbergt.
Das ehemalige Ferienheim Flüeli wird seit Dezember 2007 als Ausreisezentrum vom Amt für Migration und Zivilrecht genutzt.
Sie alle haben einen negativen Asylentscheid erhalten, können oder wollen aber nicht in ihr Heimatland zurück. Daher sind sie illegal in der Schweiz und leben am absoluten Existenzminimum, der Nothilfe: 7.50 Schweizer Franken pro Tag. Oder eben wie es im Flüeli ist: kein Bargeld, dafür Lebensmittel für eine Woche und Zugang zu Hygieneartikeln. «Einzig mit kleinen Jobs wie Reinigungs- oder Gartenarbeiten rund ums Haus können die Bewohner etwas Bargeld verdienen», sagt Armin Bühler, der Leiter des ARZ. Seit zwei Jahren betreut er die Flüchtlinge und sorgt für Ruhe und Ordnung im Haus. «Sonst gilt für sie ein striktes Arbeitsverbot, denn sie haben keine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz.» Schnell stellt sich die Frage, wieso man freiwillig in einem Land bleibt, in dem nur schon die eigene Anwesenheit illegal ist. Armin Bühler erzählt: «Die Leute, die hier bleiben, haben verschiedene Gründe: Einige haben Mühe, überhaupt an ihre Papiere zu kommen. Andere haben in ihrem Heimatland eine so schlechte Wirtschaftssituation, dass sie da kein Essen und kein Dach über dem Kopf haben. Dann bleiben sie lieber in der Schweiz mit Nothilfe. Oder sie wollen einfach nicht zurück in ein Land, in dem Krieg geführt wird.»
Mohammad Ashori ist vor fast sechs Jahren aus Afghanistan geflüchtet. Seit zwei Jahren wohnt er im Ausreisezentrum Flüeli.
Einer der Geflüchteten ist Mohammad Ashori, 26 Jahre alt, aus Afghanistan. Seit fast sechs Jahren ist er in der Schweiz, zwei davon im ARZ Flüeli. Wieso er einen negativen Asylentscheid erhalten hat, weiss er bis heute nicht. Obwohl seine Mutter und sein Bruder von den iranischen Behörden wieder nach Afghanistan ausgewiesen wurden, will er nicht in ein Kriegsland zurück. Aufgrund der aktuellen Lage in Kabul führt die Schweiz sowieso keine Ausschaffungen nach Afghanistan durch. An seinem Aufenthaltsstatus ändert sich deshalb aber nichts. Mohammad Ashori kann nicht hier bleiben und auch nicht in sein Heimatland zurück. Eine aussichtslose Situation.
Die einzige Hoffnung, die der junge Afghane momentan noch hat, ist die Bewilligung eines Härtefallgesuches. Dafür gebe es strikte Kriterien, die erfüllt werden müssen, erklärt Marcel Suter, der Leiter des kantonalen Amtes für Migration und Zivilrecht. So müssen zum Beispiel die Identität geklärt und Ausweispapiere vorhanden, keine Straffälligkeiten oder Verurteilungen vorhanden sein und es braucht eine positive Prognose für eine Arbeitsstelle. Alles Dinge, die Mohammad Ashori eigentlich hätte.
«Immer hier zu sein, ist sehr schlimm. Ich habe Angst davor, krank zu werden. Depressionen.»
- Mohammad Ashori, Geflüchteter Afghane und Bewohner des Flüelis
«Für zwei Monate habe ich in einem Hotel in Disentis als Küchenhilfe gearbeitet, das hat mir gefallen. Mein Chef hat gesagt, wenn ich will, dann kann ich zurückkommen. Aber ich kann nicht», erzählt er. Hier im Flüeli hat er keine Aufgabe. Er verbringt die Tage mit Spaziergängen, Deutschkursen und Kochen mit seinen Mitbewohnern. Das ständige Warten und die Ungewissheit seiner Zukunft bereiten ihm grosse Sorgen. «Immer hier zu sein, ist sehr schlimm. Ich habe Angst davor, krank zu werden. Depressionen.» Vielen Geflüchteten geht es gleich.
Der 26-Jährige Afghane geht im Sommer oft spazieren. Im Winter gehen die Bewohner nur selten nach draussen, da sie keine passende Kleidung für den Winter in den Bergen besitzen.
Einerseits will das Staatssekretariat für Migration (SEM) die Flüchtlinge dazu bewegen, in ihr Heimatland zurückzukehren. Auf der anderen Seite gibt es aber auch die Problematik, dass Rückführungen in gewisse Länder überhaupt nicht funktionieren können. Laut Armin Bühler ist es für Tibeter zum Beispiel praktisch unmöglich, an gültige Papiere für die Ausreise zu kommen. «Es gibt Hürden im System, die man nicht überspringen kann. In so einem Fall müsste man sich die Überlegung machen, diesen Leuten einen anderen Aufenthaltsstatus zu geben.» Über diesen Status entscheidet einzig und allein die Geschichte, die Geflüchtete mit in die Schweiz bringen. Wie sie sich hier verhalten, hat keinen Einfluss auf die Aufenthaltsbewilligung.
Aber egal wie die Flüchtlinge sich benehmen, das ARZ Flüeli ist für alle die Endstation im Kanton Graubünden. Dass es sich hier für niemanden wie ein Zuhause anfühlen soll, sieht man dem Gebäude an. Die Zimmer sind spartanisch eingerichtet, die Farbe an den Wänden blättert ab, und die neuen Sanitäranlagen befinden sich in Containern. Das alte Haus ist definitiv renovierungsbedürftig. «Das Ausreisezentrum ist am Ende der Nahrungskette. Es kommt mir manchmal so vor, als würde hier zuerst gespart werden. Ich würde nicht im Flüeli wohnen wollen», meint Bühler. Hinzu kommt die abgeschottete Lage, die den Bewohnern soziale Kontakte und Integration kaum möglich macht.
«Ich würde nicht im Flüeli wohnen wollen.»
- Armin Bühler, Leiter des ARZ Flüeli
Mohammad Ashori wünscht sich im Moment nichts mehr, als einen gültigen Ausweis. Er will arbeiten, um sich selber ein Leben aufzubauen, damit er später einmal in Chur wohnen kann. Eigentlich genau das, was andere Geflüchtete schon können, was ihm sein illegaler Aufenthaltsstatus aber verbietet. Er ist gebunden an diesen Ort, sitzt fest ohne Aufgabe und ohne Sinn, bis das Gericht zum nächsten Mal über sein Schicksal entscheidet.
Dieser Artikel ist erstmals am 20. September 2021 auf der Südostschweiz publiziert worden.
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